Zeit spielt eine Rolle
Welche Fragestellungen erfordern eher kürzere Messzeiten, welche Analytik benötigt sehr lang? Eine kleine Zeitreise durch den Campus
Molekularen und atomaren Bausteinen bei der Arbeit zusehen? Das gelingt mit Operando-Untersuchungen. Diesen tiefen Blick mit atomarer Auflösung ermöglicht BESSY II, das vom Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie (HZB) betrieben wird. Die Berliner Synchrotron-Forschungsanlage, die extrem helles Röntgenlicht (Synchrotronstrahlung) erzeugt, um physikalische und chemische Prozesse in Materialien zu untersuchen. Ein unverzichtbares Werkzeug für die Material-, Energie- und Gesundheitsforschung sowie für die Grundlagenforschung.
BESSY II verkürzt die Zeit zum Fortschritt, denn die Anlage liefert seit fast 25 Jahren Erkenntnisse. In ganz unterschiedlichem Takt: Binnen Dekaden, binnen Monaten, Wochen, Minuten, Sekunden – und Femtosekunden. Eine Femtosekunde entspricht einem Billiardstel einer Sekunde. Das Verhältnis einer Femtosekunde zu einer Sekunde ist vergleichbar mit dem einer Sekunde zu etwa 32 Millionen Jahren. Der Effekt: Durch dieses extrem kurze Zeitintervall werden unter anderem chemische Reaktionen in Zeitlupe sichtbar, indem Forschende Bewegungen von Atomen und Molekülen verfolgen.
So wie Antje Vollmer. Die promovierte Chemikerin hat einen Messplatz an BESSY II aufgebaut und acht Jahre lang geleitet, bevor sie vor zehn Jahren in die Nutzerkoordination gewechselt ist. Im Laufe der Zeit hätten sich die Ansprüche und Messzeiten deutlich verändert, berichtet sie: „Früher gab es mehr Messzeiten, die schon einmal zwei Wochen gedauert haben. Heute gibt es häufiger kürzere Messzeiten von ein paar Tagen.“
Auch im Femtosekunden-Bereich würde insgesamt über längere Zeit gemessen. Früher nutzten vor allem Synchrotron-Fachleute BESSY II. „Heute sind wir breiter aufgestellt, was mehr Betreuung seitens der Beamline-Scientists erfordert“, erläutert Vollmer. User benötigten deutlich mehr Infrastrukturen, Probenumgebungen, Labore und komplementäre Messmethoden: „Dem tragen wir Rechnung durch neue Labore, das Zusammenspiel von Synchrotron- und Offline-Methoden sowie thematische ‚Villages‘ mit mehreren Messplätzen und Laborinfrastrukturen.“
An BESSY I stammten anfangs 90 Prozent der Projekte aus der Physik. Heute sind es bei BESSY II eher 45 Prozent. Der Rest verteilt sich vor allem auf Nutzerinnen und Nutzer aus der Chemie, Biologie, Biochemie, Medizin oder auch Archäologie. „Wir sehen vor allem eine Veränderung hin zu mehr chemisch motivierten Fragestellungen, Katalyse, Energiematerialien, Batterien“, sagt Vollmer. Generell stehe die Energieforschung hoch im Kurs: „Mit über 35 Prozent sind die Themen Katalyse, Energiematerialien und Batterien stark nachgefragt.“
BESSY II passt sich den neuen Anforderungen an – und schafft sogar Bedingungen für Dauergäste: „Wir bauen gerade einen Messplatz auf, der Untersuchungen über Jahre ermöglichen soll“, berichtet Vollmer. Wobei die zu untersuchenden Proben (wie etwa neuartige Batterien) in einem ‚Probenhotel wohnen‘ werden. Vollmer: „Als ‚Hotelgäste‘ werden die Proben das machen, was in einem Hotel so üblich ist: frühstücken oder ins Fitnessstudio gehen.“ Soll heißen: Sie werden sich chemisch verändern oder Fitness betreiben, indem Zellen ge- und entladen werden. „Das über hunderte oder sogar tausende Zyklen, gegebenenfalls über Jahre hinweg“, erklärt Vollmer.
In solchen Zeiträumen kann Axel Hentsch nicht denken. Er ist Chemiker bei der Alliance Medical Radiopharmazie Berlin GmbH, die für nuklearmedizinische Untersuchungen kurzlebige Radiotracer herstellt. Äußerst eng getaktet. Denn die Ware ist verderblich. Genauer gesagt: Sie hat eine kurze Halbwertszeit. Also jene Zeitspanne, in der die Hälfte radioaktiver Atomkerne eines Stoffes zerfallen ist und sie sich in andere Atomkerne umgewandelt haben. Die Firma stellt ein radioaktives Isotop von Fluor her: Fluor-18 (¹⁸F). „Das 18F-Atom wird chemisch in die Tracer eingebaut, um Krankheitsprozesse im Körper anzuzeigen“, erklärt Hentsch. Der Stoff wird in der medizinischen Positronen-Emissions-Tomographie (PET) als Tracer eingesetzt. „Es zerfällt mit einer Halbwertszeit von rund 110 Minuten und dient der Anreicherung in Stoffwechselprozessen“, erklärt Hentsch. „Etwa dem erhöhten Glukoseverbrauch von Krebszellen.“ Durch ihren Hunger nach Zucker werden Krebsherde sichtbar gemacht. Die relativ kurze Halbwertszeit des Fluor-18 bedeutet auch, dass die Strahlenbelastung für Patientinnen und Patienten schnell abklingt, wodurch diese kaum höher als bei einer Röntgenaufnahme ist.
Hentsch und das gesamte Team müssen auf Zack sein: „Innerhalb von 14 Stunden muss das Präparat angewendet worden sein.“ Da ist straffe Logistik gefragt: Um Mitternacht startet die automatisierte Produktion im Zyklotron, gegen 3:30 Uhr ist die erste Charge fertig, die Fahrdienste, die diese zu radiologischen Praxen oder Klinken transportieren, warten schon vor der Halle. Weil zu diesem Zeitpunkt die strenge Qualitätskontrolle noch nicht erfolgt sein kann, werden die Lieferboxen mit Zahlenschlössern gesichert. Erst wenn Kontrollen ein Okay geben, erhalten die Anwender:innen den Code, um an das radioaktive Material zu gelangen. „Bei uns erfolgt vieles zeitlich parallel“, bemerkt Hentsch trocken. Er selbst lässt sich von dem Druck nicht beeinflussen und macht einen entspannten Eindruck.
Ausdauernder muss sich dagegen die MGI Tech GmbH zeigen, die dafür sorgt, Tumorerkrankungen rasch und gezielt zu behandeln. Der Life-Science-Technologie-Anbieter entwickelt Verfahren, mit denen Medizinerinnen und Mediziner zügig Genomanalysen durchführen können. DNA extrahieren und vorbereiten, die eigentliche Analyse und die bioinformatische Auswertung kommen aus einer Hand.
„Das ist für die Entwicklung neuer Therapien, im Gesundheitsmanagement und in der Diagnostik für die Präzisionsmedizin ein wertvolles Werkzeug“, erklärt Christian Zimmermann vom Vertrieb der Firma.
Die jeweiligen Aufgaben bestimmen die Zeitläufe: Als Risikogenanalyse, um mit einer individualisierten Therapie einen Tumor gezielt zu attackieren, kann das Ergebnis bereits binnen Stunden, sicher binnen weniger Tage vorliegen. Für großangelegte Populationsanalysen, bei denen (hundert-)tausende Proben bearbeitet und Informationen zu den Testpersonen gesammelt werden, vergehen Monate bis Jahre. Es können Dekaden verstreichen, bis Forschende daraus Schlussfolgerungen gewinnen, durch die neue Erkenntnisse über gesunde Lebensstile entwickelt oder Präventivmaßnahmen für Risikogruppen Gestalt annehmen. So wirkt das junge Adlershofer Unternehmen daran mit, die globale Gesundheitsversorgung zu verbessern – und braucht einen langen Atem.
Chris Löwer für Adlershof Journal



