Ein ganz tolles Ding
Im Studio D in Adlershof, wo heute allsonntäglich Anne Will zum Politik-Talk begrüßt, ging es damals etwas bunter zu. Mit „Pickel, Pop und Politik“ bekam in den bewegten Herbstmonaten 1989 die Störung im ostdeutschen Fernsehen System. Die neue Jugendsendung ELF99 wurde zum Meilenstein in der DDR-Fernsehgeschichte. Anders als von den Auftraggebern beabsichtigt, sagt Harald Becker, Geschäftsführer von Studio Berlin und von Anfang an dabei.
„Mit Bananen und Ananas sieht es gerade etwas schlecht aus in der Republik.“ Der Konter Jan Carpentiers auf die Aussage der Verkaufsstellenleiterin im Parteiparadies Wandlitz, es gäbe hier das gleiche Angebot wie in anderen Läden der DDR, zählt noch heute zu den Sternstunden von ELF99. Wie auch die Frage des Reporters nach dem Alkoholkonsum von Egon Krenz. Als Erich Honecker, dessen Zentralkomitee gemeinsam mit dem Jugendverband die Sendung in Auftrag gegeben hatte, ELF99 zu dessen Start als „ganz tolles Ding“ bezeichnete, hatte er eine derartige Berichterstattung ganz sicher nicht im Sinn. „Bunt sollte es werden, zeitgemäß und vor allem Jugendliche von den Westkanälen zurückholen“, sagt Harald Becker, Er war Anfang Februar von der Abteilung Fernsehunterhaltung als Chefregisseur und künstlerischer Leiter in das Team des neuen Jugendmagazins delegiert worden. In neueste Technik und Ausstattung wurden sogar jede Menge Devisen investiert. „Wir waren die ersten mit drahtloser Technik, Camcordern und Sendeautomaten von Sony“, erinnert sich Becker. Hinzu kam ein grelles Studio.
Am 1. September 1989 wurde die erste Sendung live ausgestrahlt. „Das war noch sehr linientreu“, so Becker. Doch immer schneller schwand die Lust, auf fertige Antworten richtige Fragen zu finden. Die Frechheit der Redaktion wuchs mit jeder Sendung. Problembeladene Jugendliche und Prostituierte kamen zu Wort, daneben spielte die Boyband Take That. Immer mehr eigene Reportagen ohne Parteideutsch schlichen sich zwischen zwischen Lambada-Tanzkursen ins Programm. Die sechste Sendung zeigte Bilder von der Situation der Prager Botschaftsflüchtlinge. Im anschließenden Kommentar testeten die Macher ihre neuen Freiheiten. Während die „Aktuelle Kamera“ dem Westfernsehen vorwirft, mit der Berichterstattung über den Aufenthalt von DDR-Bürgern in BRD-Botschaften Menschen zu verführen und in ein ungewisses Schicksal zu treiben, kommentiert Carpentier, dass hier der Republik wertvolle Menschen verloren gingen. Die Kommentare mussten vor Ausstrahlung in Textform vorgelegt und freigegeben werden. Carpentiers erste Version zur Prager Botschaft wurde abgelehnt. Daraufhin schrieb er einen linientreuen Kommentar und verlas vor der Kamera den beanstandeten. Eine Situation, die sowohl dem Journalisten als auch Chefregisseur Becker fast den Job gekostet hätten.
„Eigene Kamerateams, eigene Schnittplätze und eine eigene Senderegie sorgten für eine auf der Welt wohl einzigartige Autonomie einer Redaktion, die davon lustvoll Gebrauch machte“, schrieb der Spiegel damals. Für Harald Becker bedingte die Wende im Fernsehen auch eine Wende des Fernsehens. Die Schere im Kopf wurde stumpfer. 250 Magazinsendungen folgten, mehr als 700 Specials, Berichte über die Gethsemanekirche, die Lausitzer Tagebaue und die Bitterfelder Umweltkatastrophe. Beiträge, die haften blieben.
Nicht nur DDR-Zustände wurden aufgegriffen. Auch westliche Politiker muss-ten sich mit unbequemen Fragen der ELF99-Macher auseinandersetzen. Theo Waigel, Finanzminister jener Zeit, bekam einen Wutausbruch, als er gefragt wurde, warum die DDR-Mark, nicht wie ursprünglich zugesagt, im Verhältnis 1:1 umgetauscht würde.
Avantgarde der DDR-Fernsehrevolution, Bambi 1990 und trotzdem: Keine der neu geschaffenen Medienanstalten Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg und Mitteldeutscher Rundfunk hatten Interesse an der Fortführung der Sendung nach der Auflösung des Deutschen Fernsehfunks Ende 1991. Nach einigem „Klinkenputzen“ in ganz Europa, wie Becker sagt, hatte Helmut Thoma, damals Chef von RTL, ELF99 für Super RTL eingekauft. Anfangs erfolgreich, verkümmert das Format letztendlich zur Videoabspielsendung und verendete im Herbst 1993 bei VOX.
Im Frühjahr 2009 war es dann soweit. Nach fast 20 Jahren hat die Zeitschrift „Superillu“ zu einer Art Klassentreffen nach Adlershof gebeten. Fast alle waren gekommen – die Moderatoren Ingo Dubinski, Ines Krüger, Steffen Twardowski. Noch einmal wurden die geblümten Hemden, die Jacken mit den Mega-Schulterpolstern und die neonfarbenen Röcke ausgepackt. Eine Jubiläumssendung – wie von der Illustrierten angeregt – würde es allerdings nicht geben. „Die“, sagt Becker „müsste jemand bezahlen, und da ist keiner in Sicht.“ Was bleibt, ist die Erinnerung an die verrückteste und beste Fernsehzeit, die ich hatte, sagt ELF99-Moderator Thomas Riedel. Und die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Fernsehen etwas bewegt: Thomas Schuhbauer schreibt in seinem Buch „Umbruch im Fernsehen, Fernsehen im Umbruch“, dass „anders als bei vielen anderen Untersuchungen über das Fernsehen und politische Umbrüche sich der Einfluss von ELF99 auf den Wandel in der DDR feststellen lässt. Die Sendung spielt bei zwei Ereignissen eine wichtige Rolle: Beim Rücktritt des FDGB-Chefs Harry Tisch und beim Wandlitz-Skandal – dem Höhepunkt des politischen Skandals um Korruption und Amtsmissbrauch in der DDR.“